Wohl kein anderes Gebiet ist so berühmt für seine Klettersteige wie die Dolomiten. Zu den klassischen Klettersteig-Gebieten zählen die Brenta, Rosengarten, Langkofel, Sella, Puez-Geisler, Fassaner, Pala, Fanes, Buchensteiner, Civetta, Pragser, Tofane, Cristallo, Sorapiss, Zoldaner, Schiara, Sexten und Marmarole. Jedes Gebiet hat einen eigenen Charakter und ein eigenes Angebot von leichten und schweren Steigen. Teils gelangt man über 3000 m, teils ist man auch in unmittelbarer Talnähe unterwegs und muss im Sommer auf die Hitze achten. Was alle Klettersteigrouten gemein haben, ist der ungemein griffige Fels und die facettenreiche Landschaft der Dolomiten mit ihren Türmen, Scharten und Bändern.
Via Ferrata Costantini Die Via Ferrata Costantini wird immer wieder als die Königsetappe der Dolomitenklettersteige bezeichnet. Dieser Klettersteig wurde 1974 angelegt und bewältigt fast 1000 Hm – Via-Ferrata-Feeling pur! Da uns gute 11 Stunden Tagesleistung erwarten, starten wir schon sehr früh am Passo Duràn, vorbei am Rifugio Carestiato und weiter zum nahen Einstieg. Die südseitige Wand liegt noch im Schatten, aber der strahlend blaue Himmel verspricht einen wunderbaren Klettersteigtag. Es geht gleich recht fordernd los, und man gelangt immer tiefer in eine unglaubliche Felsszenerie hinein. Ein schluchtähnlicher Kessel, der anregend und abwechslungsreich durchstiegen wird. Nach einer Schulter stehen wir endlich vor der Schlüsselstelle: eine anstrengende Querung nach links, die früher vollkommen trittlos war. Erst später wurde sie mit einigen kleinen Felstritten versehen. Je weiter wir nach oben kommen, umso weiter öffnet sich der Blick nach Süden auf die Schiara und Teile der Palagruppe. Das Panorama vom Gipfel Cima Moiazza Sud (2878 m) aus, den wir nach 5 Stunden erreichen, ist überwältigend.
Der folgende Wegabschnitt „Cengia Angelini“ (Engelsband) gehört ebenfalls zu den Highlights der Dolomitenwege und ist wohl eines der am meisten fotografierten Motive: Ein schmales, gut gesichertes Band läuft recht einfach durch die Süd-West-Flanke des Berges und gibt erstaunliche Tiefblicke frei. Da wir Anfang Juni unterwegs sind, haben wir eine kleine heikle Eisrinne zu queren, gelangen aber wohlbehalten zum schmucken Bivacco Ghedini Moiazza. Hier hat man einen wunderbaren Blick auf eine ebenfalls klassische Tour: die Civetta mit ihrer Überschreitung über die Steige Alleghesi und Tissi.
Der nun folgende 700-m-Abstieg durch eine Westschlucht ist zwar ebenfalls gesichert, aber wesentlich leichter als der Aufstieg. Mit einem guten Cappuccino im Rifugio Carestiato lassen wir diesen herrlichen Tag harmonisch ausklingen.
Schwierigkeit: Sehr schwierig; es handelt sich um eine sehr lange und eine der anspruchsvollsten Touren der Dolomiten; ein paar Stellen Schwierigkeitsgrad 1, eine Stelle D/E.
Beste Zeit: Juli–September Höhenunterschied gesamt: 1380 Hm Zeitaufwand gesamt: 10,5–11 Std. Talort: Agordo, Forno di Zoldo
Via ferrata di Marmolada Bei schönem Wetter ist der Blick vom höchsten Dolomitengipfel, der Punta Penia/Marmolada (3343 m), einfach phantastisch. Ich bin heute schon um 4 Uhr am Passo Fedaia losgegangen, da für den späten Vormittag zunehmende Gewitterneigung angesagt wurde. Jetzt, gegen 9 Uhr, ist hier oben kein einziges Wölkchen zu sehen, und ich habe den Gipfel ganz für mich alleine. Ich muss an den Versuch vor zwei Wochen denken: Ein Orkan hatte uns in der Nacht am Passo Fedaia überrascht. In letzter Sekunde konnte sich Stephan aus dem Zelt befreien, bevor es in den See gefegt wurde. Am nächsten Tag war alles ab 2200 m weiß. Heute dagegen war es ein Genuss, den 1903 angelegten und damit ältesten Dolomitensteig zu begehen. Unterwegs wie immer die beeindruckenden Tiefblicke in die Marmolada-Südwand, wo so manche Klettergeschichte geschrieben wurde. Ich gehe noch kurz zur kleinen Hütte am Gipfel, aber auch hier ist niemand. Da ich heute alleine heraufgekommen bin, wähle ich den gleichen Weg zurück und spare mir den kürzeren, aber gefährlicheren Weg über den Gletscher. Erst kurz bevor ich die Marmoladascharte erreiche, kommen mir die ersten Bergsteiger, die den Lift vom Stausee benutzt haben, entgegen. Etwas überrascht registrieren sie den frühen Absteiger. Auch an diesem Tag werden wieder zahlreiche Leute unterwegs sein, wodurch der gleiche Weg zurück ziemlich langwierig wird. Dafür habe ich einen unerwartet schönen Tag erwischt und ein selten schönes Gipfelerlebnis gehabt.
Zwei Wochen später mache ich noch eine Tour an der Marmolada-Südseite und treffe eine Gruppe von Bergsteigern, die eine furchtbare Sturmnacht in der Gipfelhütte hinter sich haben und bei Schnee abgestiegen sind. Man kann das Glück eben nicht erzwingen …
Schwierigkeit: chwierig; lange und teils hochalpine Tour (Gletscher); der Klettersteig mit seinen vielen alten Sprossen ist technisch nicht anspruchsvoll.
Beste Zeit: Juli–September Höhenunterschied gesamt: 50–1850 Hm Zeitaufwand gesamt: 5–10,5 Std. Talort: Canazei
Pößnecker Klettersteig (Ferrata delle Mesule) Dieser Klettersteig ist eine absolute Traumtour. Im ersten Teil bietet der bombenfeste Dolomit stets ideale Tritt- und Griffmöglichkeiten. Dazu gibt es ein überdimensioniertes Stahlseil und einige (aber noch gute) Stifte, die das Erbauungsalter von 1912 erahnen lassen. Wegen einiger ausgesetzter Stellen ist dieser Steig nichts für Anfänger! Der 2. Teil ist wesentlich leichter, und so erreichen wir ohne Probleme die Piz Selva (2941 m) und somit den höchsten Punkt der Tour. Hier öffnet sich der Blick über die gesamt Hochfläche der Sella, die in ihrer Kargheit an eine Mondlandschaft erinnert. In einem weiten Rund müssen wir diese durchqueren und sind froh, dass wir früh gestartet sind, da man mittags hier gegrillt wird. Rechter Hand können wir die Karawanen erkennen, die sich vom Pordoilift zum Piz Boè (3152 m) aufmachen.
Da wir ein zweites Auto am Grödnerjoch platziert haben, müssen wir nicht den schweißtreibenden Abstieg zum Sellajoch bewältigen, sondern können die Sella an der Pisciadù-Hütte vorbei überschreiten. Nach der Ruhe auf dem Plateau ist die Menschenmasse, die der Pisciadù-Steig fast im Sekundentakt ausstößt, nahezu beängstigend.
Schwierigkeit: Sehr schwierig; teilweise Klettern bis zum Schwierigkeitsgrad 2, sehr ausgesetzt, langer Abstieg
Beste Zeit: Ende Juni–September Höhenunterschied gesamt: 750 Hm Zeitaufwand gesamt: 7–8 Std. Talort: Canazei, Wolkenstein (Selva Gardena)
Sentiero delle Bocchette Die Sonne geht am Grostè-Pass auf, der Himmel ist wolkenlos. Wir möchten das gute Wetter nutzen und die schönsten Wegteile des Bocchette-Weges an einem Tag machen: Sentiero Benini, Bocchette Alte, Bocchette Centrale. Am Ende wartet die Pedrotti-Hütte auf uns.
Der Weg zum Einstieg am Benini ist ideal zum Wachwerden. Schon auf diesem ersten Wegabschnitt gibt es zahlreiche Bänder und leichtere Klettersteigpassagen. Zuletzt steigt man über einige Leiter zum Tuckettpass und zum Beginn des Bocchette Alte, eines Klassikers unter den Dolomitensteigen, der Ende der 1960er fertiggestellt wurde. Anregend klettert man empor und erreicht die langen Bänder, die sich bis zum höchsten Punkt, der Spalla di Brenta (3004 m), hinziehen. Im Frühsommer muss man eine meist heikle Eisrinne queren, sonst aber unschwierig. Wir kommen sehr gut voran und meistern nun in zahlreichen Auf- und Abstiegen, teils über lange Leitern, mehrere Scharten, bis wir den Sfulmini-Gletscher erreichen und in den Bocchette Centrale wechseln. Dieser letzte Wegabschnitt ist wesentlich leichter, bietet aber einmalige Bänder, die einem unvergessen bleiben. Beeindruckend der Blick auf den Campanile Basso, der dem deutschsprachigen Klettersteigler besser unter dem Namen Guglia bekannt ist. Am Fuß dieser imposanten Felsnadel vorbei kommen wir am späten Nachmittag geschafft zur Pedrotti-Hütte. Ein wunderbarer Tourentag liegt hinter uns. Nicht umsonst nennt man dieses Gebiet „Königin der Dolomiten“.
Schwierigkeit: Schwierig; der anspruchsvollste und längste Klettersteig in der Brenta Beste Zeit: Juni–September Höhenunterschied gesamt: 1350 Hm Zeitaufwand gesamt: 10,5–11,5 Std. Talort: Madonna di Campiglio
Text und Fotos von Sascha Hoch