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2000 km Freiheit - zu Fuß über die Alpen von Wien nach Nizza

Hans Thurner brach mit seiner Lebensgefährtin Anita Lechner in Wien auf, um über die Alpen bis nach Nizza zu wandern. Die zurückgelegte Strecke betrug etwa 2000 km, 101 Gehtagen und 90.000 Hm.

„Wie kommt man eigentlich auf die Idee, über die Alpen zu wandern?“ Eine der Standardfragen, die mir regelmäßig gestellt wird. Die Antwort ist für mich einfach: Generationen von Alpinisten und Abenteurern auf der ganzen Welt haben bereits Überschreitungen oder Durchquerungen von Gebirgsgruppen und Regionen gereizt. In Wien an der Donau beginnen die Alpen, die bei Nizza am Mittelmeer enden. Was liegt also näher, als das Gebirge Alpen, in dem ich seit meiner Kindheit unterwegs bin, einmal in seiner ganzen Länge zu durchwandern?

 

Eine weitere Inspiration für mich waren auch andere Bergsteiger. Zum Beispiel Fritzi und Charly Lukan, die ihre fünfmonatige Tour von Wien nach Nizza im Sommer 1984 begannen. Auch ein Vortrag vor vielen Jahren von Klaus Hoi wirkte nachhaltig. Die Steirer Knittl, Mariacher und Hoi starteten am 20. März 1971 mit Skiern am Fuß der Raxalpe und erreichten nach nur 42 Tagen das Ende der Alpen bei Nizza.

Ausschlaggebend war aber letztendlich ein anderer Grund: Wenn man an schönen, klaren Herbsttagen auf einem der Wiener Hausberge, der Rax oder dem Schneeberg, steht und in Richtung Westen blickt, sieht man die Silhouetten der immer höher werdenden Berge. Scheinbar zahllos reihen sie sich bis zum Horizont aneinander. Ein Schauspiel, das ich oft genoss und auch fotografierte. Dabei manifestierte sich der Wunsch, einfach einmal aufzubrechen und in diese Richtung zu gehen, immer weiter und weiter … über all diese Berge bis dorthin, wo sie im Meer versinken.

 

Es geht los!

„Taten statt Worte. Es geht los. Der Wetterbericht verspricht Gutes, und im Wienerwald hat der Frühling schon Einzug gehalten“, tippte ich am 6. April 2011 in den eigens für diese Wanderung eingerichteten Internet-Blog. Als Anita und ich am nächsten Tag die ersten Schritte von der Donau hinauf zum Leopoldsberg machten, hatten wir wenig Ahnung von dem, was auf uns zukommen sollte. Start und Ziel waren bekannt und dazwischen lagen die Berge, die es zu überschreiten galt. Wir verzichteten auf eine genaue Routenplanung und nahmen nur eine Übersichtskarte mit. Die notwendigen Detailkarten wollten wir unterwegs vor Ort kaufen und sie nach der „Durchwanderung“ per Post nach Hause senden.

 

Der nach Frühling und Bärlauch riechende Wienerwald ist in vier Tagen durchwandert, und mit dem Schneeberg besteigen wir den östlichsten 2000er der Alpen. Ab jetzt geht es richtig los, denken wir. Motiviert überschreiten wir Rax, Schneealpe, Veitsch, Hochschwab und durchwandern die Gesäuse-Berge. Die ersten 17 Gehtage liegen nun hinter uns, ohne nass geworden zu sein. Unglaublich! Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, wie rasch sich das ändern kann, denn die anfängliche Schönwetterphase war die deutlich längste während der ganzen Wanderung.

 

Den Plan, die Niederen Tauern zu durchwandern, lassen wir wegen der noch geschlossenen Hütten fallen, und wir nehmen Kurs Richtung Süden. Wir durchwandern die Nockberge und sind von der Weite der Bergwelt, den unzähligen Seen und reizvollen Almhütten begeistert. Eine kleine Plauderei auf der Laußnitzer Alm:

Senner zu Hans: „Wos hosdn nocha du füa a Gschäftl, dasd den gonzn Summa wondern gehen kaunst?“

Hans: „Ich bin Bergführer.“

Senner zu Anita gewandt: „Und du?“

Anita: „Ich bin Krankenschwester.“

Senner: „Nau daun gheast eh amol aun die Luft!“

 

Anstrengend und anspruchsvoll

Bei der Überschreitung des 2371 m hohen Reiskofels, dem höchsten Berg der Gailtaler Alpen, erleben wir wider Erwarten die schwierigste Tagesetappe zwischen Wien und Nizza. Von der E.-T.-Comptonhütte ist der Gipfel zwar bald erreicht, doch der Abstieg erfordert unsere ganze Konzentration. Mit einem Mal befinden wir uns in einem Gelände, in dem zumindest ein Pickel hilfreich wäre. Schritt für Schritt treten wir Stufen in die harten und steilen Altschneefelder der „Nordwand“ des Reiskofels. Nebelschwaden fallen ein, und die Sicht beträgt nur wenige Meter. Als Pickelersatz dienen uns spitze Steine. Mit unseren Wanderschuhen kommen wir uns definitiv fehl am Platz vor. „Halbschuhtouristen in der Reiskofel-Nordwand abgestürzt“, scherzen wir ironisch und erreichen erleichtert die Reiskofel-Biwakschachtel, wo wir eine erholsame Vollmondnacht verbringen.

 

KHW 403: Diese Bezeichnung steht nicht für eine chemische Formel, sondern sie bezeichnet den Karnischen Höhenweg oder „Friedensweg“ entlang der Grenze zwischen Österreich und Italien. Alte Schützengräben, Kriegsunterstände, Stacheldrahtreste und Granatsplitter entlang des Weges zeugen von den Gräueln des Ersten Weltkriegs. Zwischen den Schlechtwetterfronten gelingt es uns zum Glück, einen Teil des KHW relativ trocken zu beschreiten. Anstrengend, anspruchsvoll, viele Höhenmeter, aber mit einem atemberaubenden Panorama. Sattgrüne Hochalmen liegen zwischen rauer, felsiger Bergwelt, Bergseen mit glasklarem Wasser und unzählige Bäche erfreuen uns. Pfeifende Murmeltiere kündigen unsere Ankunft an, und sogar auf hochgelegenen, ausgesetzten Berggraten treffen wir auf weidendes Schafsvolk.

 

Durch Oberitalien

Quer durch die Dolomiten erreichen wir Bozen, wo wir am Campingplatz unsere höhenmetergeplagten Gebeine in den Pool stecken. Die Sonne brennt gnadenlos und lässt unsere Gehirnzellen träge werden. Trotzdem versuchen wir, uns zu erinnern. Unsere bisherige Strecke: Moos/Sexten, Drei Zinnen, Cortina d’Ampezzo, Cinque Torri, Nuvolau, Andraz, Pordoijoch, Canazei/Campitello, Duron-Tal (Rosengarten), Schlern und Bozen. Hinter uns liegen leuchtende Gipfel, romantische Zeltplätze, grüne Almen, erfrischende Quellen, aber auch kraftraubende steile Anstiege bei Hitze oder Sauwetter.

 

„Wir Südtiroler haben eine völlig andere Mentalität als die Italiener“, sagt in den Sarntaler Alpen unser Gastwirt mit charmantem Dialekt und schenkt uns frischen Apfelsaft ein. Er wird emotional und plädiert für eine Wiedervereinigung Südtirols mit Österreich. Ein sensibles Thema, auf das wir uns aber nicht einlassen.

Am 54. Gehtag erreichen wir das Stilfser Joch und halten Ausschau nach einem Schlafplatz. Vor einem nobel wirkenden kleinen Castello wehen die Schweizer und italienische Flagge im Wind. Unerreichbar für uns, denken wir, doch wir werden angenehm überrascht. Es werden ganz normale Berg-Rifugio-Preise verlangt, und wir werden äußerst zuvorkommend aufgenommen.

 

Die Kalt- und Schlechtwetterfronten in diesem Sommer scheinen sich gegenseitig überbieten zu wollen. Gore-Tex-Bekleidung und Regenponcho sind mehr oder weniger im Dauereinsatz. Doch meist nehmen wir es mit Humor. Unser großer Vorteil: Wir sind jeden Tag draußen unterwegs und können somit keinen Schönwettertag versäumen.

 

In der Region des Comosees rechnen wir uns die Halbzeit der Wanderung aus. Nicht das Gehen oder das Rucksackschleppen ist das Anstrengendste der Wanderung, reflektieren wir, mindestens genauso anstrengend ist es, sich ständig auf neue Situationen und Menschen einstellen zu müssen. „Wir reservieren Ihnen gerne ein Zimmer, es ist nicht weit von hier, nur 10 km“, sagt eine freundliche Dame an der Touristeninfo. Ein guter Tipp, aber eher nur für Autofahrer. Nach acht Stunden Gehen mit 1400 Höhenmetern sind „nur 10 km“ schlichtweg unmöglich für uns.

 

Ab dem italienischen Piemont wird die Routenwahl für uns etwas einfacher. Auf weiten Strecken sind wir nun am Weitwanderweg Grande Traversée des Alpes (GTA) unterwegs, der vom nördlichen Piemont auf alten Saumwegen bis nach Monte Carlo führt. Ausgezeichnetes Essen, landschaftliche Highlights sowie interessante Begegnungen mit Menschen begleiten uns die nächsten Wochen. Aber auch gnadenlose Pässe mit vielen Höhenmetern sind zu bewältigen.

 

Großes Staunen & Komplimente

Ein Höhepunkt der Wanderung - im doppelten Sinne des Wortes – ist der „Melonenberg“. Der Rocciamelone, der wichtigste Wallfahrtsberg der Italiener, ist mit 3538 m Höhe ein stolzer 3000er, wenn auch einfach und leicht zu besteigen. Da uns in der Hütte zu viel los ist, errichten wir unweit davon auf einem ausgesetzten, aber genialen Plätzchen unser „Highcamp“. Der Wecker klingelt um 3.30 Uhr. Es ist fast noch Vollmond, und wir kommen ohne Stirnlampe voran. Auf halber Strecke lichtet sich dann im Tal die dicke Wolkendecke, und wir sehen - 3000 Höhenmeter tiefer - die Lichter der Stadt Susa. Exakt bei Sonnenaufgang erreichen wir den Gipfel des Rocciamelone, wo eine riesige Madonnenstatue steht. Die Fernsicht ist atemberaubend und reicht vom Monte Rosa und Montblanc im Norden bis zu den Dauphiné-Alpen im Süden.

Im Süden sehen wir am Horizont auch die Pyramide des Monviso. Der markante, 3841 m hohe Berg ist etwa zwölf Tagesetappen entfernt, und noch zweimal so weit - das erkennen wir auf unserer Übersichtskarte - ist es bis Nizza! Das erste Mal seit unserem Aufbruch in Wien bekommen wir eine konkrete Vorstellung davon, wie weit es noch bis zum Meer ist.

 

Über etliche Pässe - mittlerweile haben wir die Übersicht verloren und aufgehört zu zählen - erreichen wir das Dorf Larche, wo wir endgültig über die Grenze nach Frankreich wechseln. In den diversen Unterkünften (Gîtes d’étape) lautet die unvermeidliche Frage, die uns von Hüttenwirten und Gästen gestellt wird: „Wo kommt ihr her?“ Wir antworten: „Aus Wien!“ - „Oh, very nice. Aber wo seid ihr losgewandert?“ Meist holen wir dann unsere Karte hervor, auf der wir seit Wien mit Leuchtstift unseren Weg eingezeichnet haben. Großes Staunen und Komplimente sind uns damit immer sicher :-).

 

Das Ziel vor Augen

Ab Larche betreten wir den Nationalpark Mercantour, der in den Seealpen liegt. Die nächsten Tage wandern wir durch weitgestreckte Täler, vorbei an Seen und entlang von Flüssen - die perfekte Wanderlandschaft. Neben unzähligen Murmeltieren sehen wir einmal in einem Hochtal 21 Geier kreisen.

 

Den Pass Col de Turini, über den eine Etappe der legendären Rallye Monte Carlo führt, erreichen wir völlig durchnässt. Es scheint, als wolle sich unser treuer Begleiter dieses Sommers noch einmal von seiner besten Seite zeigen. Tags darauf schlüpfen wir in die noch immer nassen Schuhe und wandern hinauf zur Cime de la Calmette (1789 m) und plötzlich: DAS MEER! Zwei Tagesetappen entfernt können wir hinter den letzten Bergen und Hügeln einen blauen Streifen erkennen. Sogar die Stadt Nizza ist im Dunst der Ferne auszumachen. Was für ein Augenblick! Ein Moment, den wir uns schon lange immer wieder vorgestellt haben. Und genau diese Vorstellung, irgendwann einmal auf unserer Wanderung das Meer zu sehen, hat uns vor allem in den Tagen des Nebels und Regens auf den unzähligen windigen Pässen motiviert, nicht aufzugeben.

 

Die letzten Kilometer sind landschaftlich uninteressant, doch darauf haben wir uns eingestellt und nehmen es gelassen hin. Eher zufällig finden wir die Altstadt von Nizza und schieben uns durch die Touristenmassen und schmalen Gassen. Wir versuchen, unsere Gedanken zu ordnen und uns an den Aufbruch in Wien zu erinnern, an das Wasser der Donau, an die ersten Schritte, an die vielen schönen Phasen, aber auch an die verzweifelten Momente, in denen wir nicht sicher waren, ob wir es schaffen werden. Unsere Gefühle sind zweigeteilt. Einerseits sind wir erleichtert, den anstrengenden Weg hinter uns zu haben, andererseits wissen wir aber auch, dass nun die für uns einzigartige „Fußreise der Entschleunigung“ in wenigen Minuten vorbei sein wird.

Noch eine enge Gasse, ein historisches Gebäude mit einem Torbogen und dann liegen die letzten zwanzig Schritte von Wien nach Nizza vor uns. Wir bahnen uns einen Weg durch die vielen Badegäste und greifen schließlich mit der Hand ins Wasser. Es ist, als stünden wir zum ersten Mal am Meer. Wir haben unser Ziel erreicht!

 

Text & Fotos: Hans Thurner, staatlich geprüfter Berg- und Skiführer

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